Seien wir ehrlich: das Jahr können wir jetzt schon abhaken. Also biete ich den frühesten Jahresrückblick aller Zeiten.
Keine Angst, das wird kein Essay darüber, welche Chancen durch Corona entstehen, wie die Gesellschaft sich ändern muss, dass die wahren Probleme durch die Klimakrise erst noch kommen. Ich habe keine globale Sicht auf die Dinge, ich stochere auch nur im Nebel. Nein, ich möchte hier ein wenig privater werden, was bei mir in letzter Zeit passiert ist und was es für mich bedeutet.
Das twitterte ich ziemlich genau, als die Corona-Maßnahmen anfingen. In meinem Rückblick auf das letzte Jahrzehnt, den ich schon Ende November 2019 geschrieben hatte, tauchte das Wort Müdigkeit diverse Male auf. Darin habe ich darüber geschrieben, dass alles nicht so läuft, wie ich es gern hätte.
Gesundheit
“Da ist Gewebe, das da nicht sein sollte.”
Es gibt Sprüche, die sollte man Ärzt*innen verbieten. So einen zum Beispiel. Es sei denn, er ist gefolgt von einer ausführlichen Erklärung und einer realistischen Einordnung. Die kam dann auch einigermaßen: eine Hälfte meiner Schilddrüse war vierfach größer als in der Bedienungsanleitung vorgesehen, was sich um Silvester rum in fühlbaren Symptomen geäußert hatte.
Ich hatte einen Hals.
In den meisten Fällen ist das harmlos, meinte der Arzt. Ich lernte das Wort “Szintigramm”, bekam etwas Radioaktivität in die Venen, damit alles schön leuchtet, und wurde gescannt. In 14 Tagen sollte ich zur Punktierung wiederkommen. Aber wahrscheinlich ist das nicht bösartig, hieß es.
Wahrscheinlich.
Zwei Wochen später wurde ich von dem Arzt begrüßt mit dem Hinweise, dass letztes Mal nach mir ein anderer Patient mit ähnlichen Symptomen da war … und bei dem war es dann bösartig.
Auch hier folgte die ausführliche und völlig logische Erklärung, dass man nicht genau weiß, womit man es zu tun hat, bevor man es rausschneidet. Isso.
Aus Sicht des Arztes war das alles völlig korrekt formuliert. Aber trotzdem auch so etwas, das man Medizinern verbieten sollte – gerade dann, wenn man es mit einem Patienten zu tun hat, der beruflich eine ausgeprägte Fantasie mitbringt. Es ist wahrscheinlich nicht bösartig, aber hier haben wir direkt ein Gegenbeispiel. Und wenn es jemand ist, der vor nicht allzu langer Zeit den Krebstod seiner Mutter miterlebt hat.
Und jetzt punktieren wir. Was natürlich nur eine Annäherung ist. Wahrscheinlich ist das harmlos.
Wahrscheinlich.
Außer bei dem anderen halt.
Ich habe Mitte Januar ein paar Nächte verflucht schlecht geschlafen.
Die Punktierung war unauffällig. Die Blutwerte okay. Aber wie gesagt: Gewissheit nur, wenn man das Zeug rausholt.
An so einem Punkt trete ich (und vermutlich auch andere Leute … hoffe ich zumindest) in eine irrationale Verhandlungsphase mit mir selbst ein. Okay, eine Operation muss sein. Dann bekomme ich Gewissheit. Aber wie lange kann ich sie rausszögern? Ist ja schließlich wahrscheinlich harmlos. Also bloß nicht sofort machen … Ach, weil alles unauffällig ist, kann ich ruhig noch ein paar Monate warten? Ja super, jetzt ist Januar, dann mache ich das doch … im April, da passt es mir auch mit der Arbeit besser!
Wisst ihr noch, wie wir im Januar was für den Frühling geplant haben?
Es wurde Mai mit der Operation. Immerhin nur Mai.
Aus dem “wahrscheinlich harmlos” wurde …
“harmlos”.
Ich habe nur noch eine halbe Schilddrüse, schlucke ab sofort Thyroxin, aber ich kann wieder besser schlafen.
Puh.
Das alles hat mich aber darüber nachdenken lassen, was diese Müdigkeit aus dem letzten Jahr angeht. Ist dieser seltsame Gesamtzustand darauf zurückzuführen, dass die Schilddrüse meine ganze Körperchemie durcheinander gebracht und mir Energie abgesaugt hat? Oder hat das damit nichts zu tun und dieses Gefühl der Erschöpfung ist vielleicht auch nur ein stinknormaler Alterungsprozess, das Ergebnis von fast 20 Jahren Freiberuflichkeit, und das mit der Schilddrüse hat sich zufällig überschnitten?
Übernommen
In dem Tweet oben schreibe ich, dass ich mich letztes Jahr übernommen habe, aber eigentlich ist das bei mir ein Dauerzustand. Sicher – Berufsrisiko des Freiberuflers. Übernimmste dich nicht, haste existenzielle Panik.
In den letzten Jahren habe ich es aber definitiv übertrieben. Das fing bei der Arbeit an. Es gibt den schönen Spruch, gerade im Bezug auf die Spielebranche, dass viele Leute, die von sich sagen, zehn Jahre Erfahrung zu haben, in Wirklichkeit nur ein Jahr Erfahrung haben, das sie zehn Mal wiederholt haben. Darüber kann ich nicht mehr ganz so doll lachen, weil ich langsam das Gefühl habe, dass er auch auf mich zutrifft.
Sicher, einige Sachen haben großartig funktioniert. Auf unser “Leisure Suit Larry” bin ich nach wie vor unfassbar stolz. Meine letzte Übersetzung war ein kleiner Bestseller. Unser Buchpodcast ist immer noch ein Heidenspaß. Aber auf alles, was gut gelaufen ist, kommt etwas, wo sich bei mir das gute, alte Hochstapler-Gefühl eingestellt hat. Das Gefühl, gar nicht zu wissen, was ich da tue. Ein Projekt nicht in den Griff zu bekommen. Ein paar Sachen in denen letzten Jahren, bei denen ich mit mir selbst völlig unzufrieden war, würde ich am liebsten noch mal von vorne starten und ordentlich angehen.
Tja, war das schon die Schilddrüse? War das mein Kopf? Ist das einfach meine Art und ich muss immer so weitermachen?
Entspannen
Es gibt Leute, die entspannt durchs Leben gehen und die Dinge einfach laufen lassen.
Ich nicht.
Als wäre das mit der Freiberuflichkeit nicht genug, hatte ich mir vor ein paar Jahren dann auch noch vorgenommen, insgesamt viel aktiver zu sein. Politisch hinter die Kulissen zu gucken, Ehrenämtern anzunehmen, für die Dinge einzutreten, die ich für richtig halte. Je mehr, desto besser.
In den letzten Monaten habe ich das alles abgegeben und mich überall rausgezogen.
Bei den Grünen bin ich auch ausgetreten, weil es mir gereicht hat, ein paar Jahre lang von der Basis die Impulse zu setzen, die mir wichtig sind, aber um wirklich etwas zu bewegen, muss man – wie in jeder Partei – nach Ämtern und Posten jagen, und dafür bin ich nicht gebaut. Rein ideelles, passives Mitglied sein? Dafür auch nicht, denn dafür stimme ich mit zu vielen Positionen in der Partei, die mir besonders wichtig sind, nicht überein (alles wahlweise zu christlich oder zu esoterisch, generell etwas zu viel Technikfeindlichkeit). Ein Teil von mir hätte sich sogar stärker engagieren wollen, eben doch Ämtern und Posten hinterherjagen, und da muss ich jetzt sagen: Selbstschutz geht vor. Weg vom Beckenrand, bevor ich kopfüber reinspringe und nicht mehr rauskomme. Ich bin auch nicht jemand, der entspannt am Beckenrand sitzen kann und die anderen planschen lässt. Entweder ich bin im Wasser bei den anderen oder ich gehe gar nicht erst ins Schwimmbad.
Es fühlt sich nicht gut an, sich aus vielen Sachen rauszuziehen, denn man gesteht damit die eigene Schwäche ein. Dass man Grenzen hat. Dass nicht alles geht. Dabei muss man auch akzeptieren, dass bewusstes Einsparen von Energie als Egoismus wahrgenommen wird.
Zumindest in dieser Hinsicht will ich entspannter sein. Wird es halt so wahrgenommen. “Bevor ich mich aufrege, ist es mir lieber egal”, sagt eine alte Weisheit.
Ausblick
Huch, wir haben ja noch ein paar Monate dieses Jahr. Was jetzt?
Im Juni nehme ich keine neuen Projekte an. Wenigstens ein paar Wochen muss ich mich einnorden und ausheilen.
Was ich in der zweiten Jahreshälfte mache?
Keine Ahnung. Vielleicht mehr Podcasts. Es macht mir mehr Spaß, als ich gedacht hätte, und bislang sind nur wenige Leute vor meiner schnellen Sprechweise mit hessischem Zungenschlag weggerannt. Die Kamera anwerfen und mit Twitch experimentieren ist auch so eine Idee. Ohne konkretes Ziel. Einfach, weil ich Bock darauf habe.
Dann muss ich etwas tun, was ich mir im Laufe der letzten Jahre schon öfter vorgenommen und dann nur halbherzig umgesetzt habe.
Es wird Zeit für einen neuen Roman.
Strategisch und finanziell ist das Blödsinn. Ein Roman ist ein Lottoschein, mit einer etwas höheren Gewinnchance. Aber immer noch ein Lottoschein. Wenn ich Glück habe, finde ich einen Verlag und bekomme einen Vorschuss, der die Arbeitszeit auf Mindestlohnniveau bezahlt. Ansonsten bleibt mir nur Eigenverlag, und dann muss ich noch Geld für Cover und Lektorat investieren in der Gewissheit, dass ich vielleicht 200 Exemplare verkaufe (also ein sicheres Verlustgeschäft). Verschwindend gering ist die Chance, dass ein Verlag richtig großes Potenzial für das Buch sieht, entsprechend bezahlt und das Buch bewirbt … und, tja, mit einem gewissen Nichtreisebuch hatte ich das schon, und das war dann trotzdem nicht der erhoffte Bestseller. Wie Corona das alles noch durchrüttelt, ist auch unabsehbar.
Ein Lottoschein halt.
Aber …
Ich habe schon wieder einige Jahre lang an nichts gearbeitet, was einzig und allein meine Angelegenheit ist. Etwas, das sich nicht andere Leute ausgedacht haben, wo ich die alleinige Entscheidungshoheit habe. Mag sein, dass das, was ich da zusammenflunkere, völlig am Markt vorbei geht, dass ich am Schluss draufbezahle, dass ich zwischendrin panisch irgendwelche Aufträge annehmen muss, damit am Jahresende die Kasse stimmt.
Ich muss es wieder tun.
Es sind 106 Meilen bis Chicago, der Tank ist voll, ich habe ein halbes Päckchen Thyroxin, es ist dunkel und ich trage eine Sonnenbrille.
Also los.
PS: Ich stehe für keinerlei Ämter oder Mitgliedschaften zur Verfügung. Geht weg!