Onleiden

Ich mag Geld. Damit kann ich Dinge kaufen und überleben. Ich habe Verträge mit Agenturen, Verlagen und Sendern unterschrieben, Selfpublishing betrieben, ich bekomme Crowdfunding-Geld als Buchpodcaster, und aktuell bin ich eine der glücklichen Personen, die beim „Neustart Kultur“-Stipendium eine Zusage erhalten haben, um ein weiteres Buch zu schreiben. Geld ist gut, woher es auch kommt. Obwohl ich in Mathe immer eine Null war, weiß ich, dass es besser ist, wenn die Zahl vor dem Euro-Symbol größer statt kleiner ist. Daher müsste ich doch alles unterstützen und unterschreiben, was von sich behauptet, meine Rechte als kleiner Autor zu stärken und mir mehr Geld in die Taschen zu spülen. Oder?

Den offenen Brief der „Initiative Fair Lesen“ werde ich nicht unterzeichnen, schon weil in der zweiten Zeile der Startseite mit dem Wort „Zwangslizenzierung“ um sich geworfen wird. Eine harte Vokabel, die das, worum es geht, unnötig militarisiert. In der folgenden Zeile wird „Für Vielfalt und Meinungsfreiheit“ eingetreten, was sympathischer klingt, und nun könnte man mit Logik argumentieren, dass eine Zwangslizenzierung aller Kultur genau dafür sorgen würde, also yay? – aber das ist vermutlich nicht gemeint.

Ich versuche zu sortieren, worum es dabei eigentlich geht, was das Whitepaper von „Fair Lesen“ fordert: Die Initiative ist ein Bündnis von Autor*innen, Urheberverbänden, Verlagen und Buchhandel, das einen Vorschlag des Bundesrats aus März 2021 kritisiert, das Urheberrecht zu modernisieren und unter anderem diesen Paragrafen im Grundgesetz zu ergänzen: „Digitale Leihe. Ist ein Schriftwerk mit Zustimmung des Rechteinhabers als digitale Publikation (E-Book) erschienen und als solche erhältlich, so ist der Verleger dazu verpflichtet, nicht kommerziell tätigen Bibliotheken ein Nutzungsrecht zu angemessenen Bedingungen einzuräumen. Zu den angemessenen Bedingungen zählt insbesondere, dass den Bibliotheken das Recht eingeräumt wird, jeweils ein Vervielfältigungsstück des Werks digital für begrenzte Zeit jeweils einer Person zugänglich zu machen.“

Die Initiative befürchtet dadurch „mehr Schaden als Nutzen“ und verweist auf eine GfK-Studie, die ergeben soll, dass 46% der E-Book-Nutzung über die „Onleihe“ stattfindet, also die digitale Leihe der öffentlichen Bibliotheken. Darin sieht sie eine „bedrohliche Lücke im Wertschöpfungssystem“, weil die Lizenzerlöse durch die Onleihe „sehr niedrig“ ausfallen.

Was ich erst durch die Diskussion über das Thema gelernt habe: Für öffentliche Bibliotheken sind gedruckte Bücher und E-Books noch nicht gleichgestellt. Nun fordert der Deutsche Bibliotheksverband, dass sich das ändern soll, also dass E-Books exakt so gehandhabt und abgerechnet werden sollen wie gedruckte Bücher, dass also mehr für E-Books an Verlage und Autor*innen zurückfließen soll.

Zusammengefasst: Politik und Bibliotheken möchten den Verleih von E-Books leichter machen, alle Titel sollen im Rahmen eines geschlossenen Systems zur Verfügung gestellt werden, dafür soll dann auch mehr Geld als früher überwiesen werden, aber die Buchbranche meint, dass das dann im Verhältnis zu wenig Geld ist und die Verkäufe einbrechen.

Ich stolpere zunächst über die Behauptung, dass 46% der in Deutschland konsumierten E-Books über die Onleihe laufen sollen. Durch die oben verlinkte GfK-Studie habe ich mich jetzt mehrmals gescrollt – eine solche Gegenüberstellung finde ich nicht. Auf Nachfrage habe ich noch einen „Faktencheck“ des Börsenvereins des deutschen Buchhandels erhalten, der für 2020 ca. 35,8 Millionen verkaufte E-Books und 30,2 Millionen E-Book-Ausleihen gegenüberstellt. Schaut man in der Marktanalyse genauer hin, stellt man fest, dass in der Verkaufszahl nicht enthalten sind: „Kostenfreie E-Books / Kostenpflichtige Flatrates/digitale Bezahl-Abos, wie Amazon Prime, Kindle unlimited, Skoobe etc. / Gratis E-Book Zugaben zu Print-Titeln (Freemium-Angebote).“ Das dürfte das Verhältnis schon ein gutes Stück verschieben, wenn es eingerechnet wäre. Außerdem frage ich mich, ob Selfpublisher*innen da einbezogen werden. Ich weiß nicht, ob amazon dem Börsenverein die 2020er-Verkäufe meiner selbstverlegten Kurzgeschichtensammlung gemeldet hat (es waren fast 20!), und es gibt genug Leute, die fünf- bis sechsstellige Auflagen im Selfpublishing haben. Definitiv ist die Behauptung, dass Onleihe 46% des GESAMTEN E-Book-Konsums ausmacht, objektiv nicht zu halten, schon anhand der Fußnote in der Erhebung, und kämen Selfpublisher dazu (die bekannter als ich sind), wäre das Verhältnis noch einmal dramatischer.

Schaue ich in die GfK-Studie und ihre Bewertung durch den Börsenverein, finde ich auf der Eingangsseite dies: „Die Nutzer der Onleihe sind im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich jung. Außerdem sind sie überdurchschnittlich gut situiert und gebildet. Die Zahlen zeigen auch: Die Onleihe schmälert die Kaufbereitschaft buchaffiner und kaufkraftstarker Zielgruppen am Buchmarkt.“ Daraus lese ich schon paraphrasiert die Angst: Leute, die sich einfach Bücher leisten können, tun es nicht mehr, weil sie – Gratismentalität! Schmarotzer! – die Bücher einfach in der Onleihe ziehen können.

Daraus ziehe ich offenbar andere Schlüsse als der Börsenverein und die Initiative.

Wenn die Onleihe wirklich so ein durchschlagender Erfolg ist und ganze Menschenmassen digital Schlange stehen, dann lese ich daraus vor allem: Es gibt hierzulande einen riesigen Bedarf an bezahlbaren E-Books.

Ich habe selbst gerade wieder 19,99 für ein E-Book ausgegeben (John Boyne: Die Geschichte eines Lügners). Das Hardcover läuft für 24 Euro, und ich muss schon glücklich sein, dass das E-Book nicht gleich 23,99 Euro kostet. Wie immer war ich versucht, einfach die digitale Originalausgabe zu kaufen („A Ladder to the Sky“), die kostet nur 6,99 Euro. Eine GfK-Studie käme zu dem Schluss, dass das ca. ein Drittel des deutschen E-Book-Preises ist. Ja, ich bin selbst Übersetzer, Lektorat, Lizenzkosten und alle anderen Leute bei der Veröffentlichung sollen bezahlt werden, auch ich, aber die deutschen E-Book-Preise sind einfach lächerlich hoch.

Nach wie vor versucht die deutsche Buchbranche, die Regeln und Rituale der analogen Welt auf das Digitale zu übertragen, und wie man aktuell sieht, werden die Chancen der Digitalisierung lieber untergraben, statt sie aktiv zu formen. Ich möchte nicht, dass die deutsche Buchbranche mit einer „move fast and break things“-Startup-Mentalität daherkommen muss, aber „don’t move and keep others out“ ist auf lange Sicht auch nix. Apple war vor 20 Jahren fast pleite, hat sich dann mit ein paar hübschen Computern berappelt und den ersten iPod rausgebracht. Die Zeit des iPod lief mit dem iPhone dann auch schon wieder aus. Gerade einmal sechs Jahre war der iPod das primäre Apple-Produkt (also 30 Buchbranchenjahre), und in dieser Zeit hat Apple erst den Mut gehabt, auch erfolgreiche Modellreihen in die Tonne zu kloppen und von Grund auf neue Geräte zu entwickeln, nein, sie haben auch selbst gesehen, dass Mobiltelefone den iPod obsolet machen werden. Also? Sie machen ihn selbst obsolet, sie treiben die Entwicklung aktiv voran. (Fürs Protokoll: ich benutze Apple nicht mehr und hege schon länger keine Sympathien mehr für die Firma.)

Digitalisierung und die Veränderungen der Medienlandschaft kann niemand aussitzen. Bei Twitter wurde mir mehrmals gesagt, dass wir unbedingt verhindern müssen, dass Bücher per Flatrate angeboten werden, denn man sehe ja an Spotify, wie schrecklich das alles für die Kreativen ist. Nun, ich vermute mal, wenn der Gesetzgeber eine Flatrate im Stil der Öffentlich-Rechtlichen Sender erheben und an den Börsenverein ausschütten würde, hätte der erst mal nichts dagegen. Zweitens hat die Branche ja ein Flatrate-Angebot, nämlich Skoobe. Aktuelle Stichprobe: Die Top 5 der Spiegel-Bestseller Belletristik Hardcover und Taschenbuch sind nicht im Sortiment. Was hält die deutsche Buchbranche nun davon ab, eine eigene attraktive Flatrate auf die Beine zu stellen, die ein besseres Angebot als die Onleihe hat, technisch zugänglich ist und preislich attraktiv? Es muss ja nicht das Spotify-System sein, an dem man, soweit ich das verstehe, zurecht kritisiert, dass die Ausschüttung relativ erfolgt und so immer die sowieso großen Künstler im Verhältnis zu viel bekommen, statt dass die Nutzung der einzelnen Leute als Maßstab rangezogen wird. Es gibt auch Alternativen, zum Beispiel Deezer, die versuchen, die Auszahlungen direkt an Streams zu koppeln. Wenn das Spotify-System unfair ist, muss es ja nicht die Grundlage für die Buchlandschaft sein.

Ich glaube, nicht die Abrechnung digitaler Bücher wird mittelfristige das größte Problem, sondern ich verweise ich auf die Studie „Aktuelle Bestandsaufnahme und Bedarfsanalyse im Bereich der Förderung verlegerischer Vielfalt auf dem Buchmarkt in Deutschland“, durchgeführt von DIW-ECON im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Allein die erste Zahl, die der Bericht präsentiert, sollte doch jede Person in der Buchbranche wie ein Hammerschlag treffen: „Zwischen 2012 und 2019 ist die Käufer*innenreichweite um 8,1 Mio. Buchkäufer*innen geschrumpft, von 36,9 auf 28,8 Mio. Käufer*innen pro Jahr.” Dazu kommt, dass im Schnitt weniger als früher gelesen wird, weil die gesamte Medienlandschaft sich ändert.

Die Herausforderung ist nicht, genug Geld mit Büchern umzusetzen, die Herausforderung ist, dass Leute nicht vergessen, dass es Bücher gibt. Nicht die Onleihe ist eine Gefahr für den Buchmarkt, sondern die ganze Welt außerhalb des Buchmarkts. Diese vielen Bildschirme (und vielleicht noch das Leben drumrum mit all den schrecklichen Herausforderungen des Erwachsenseins, und die Energiepreise steigen auch immer weiter).

Wie könnte man Leute zum Lesen bewegen? Nun … vielleicht auch mit öffentlichen Bibliotheken? Wenn die GfK-Studie zeigt, dass gerade junge Menschen die Onleihe verstärkt nutzen … wäre es nicht i aller Interesse, diese noch attraktiver zu machen? Und wenn die Studie zeigt, dass es primär gebildete, gut situierte Leute sind, die die Onleihe nutzen, ist das dann ins eigene Fleisch geschnitten? Klar, es WIRD die Schmarotzer geben, die drei Mal im Jahr in Urlaub fahren, in ihrer Villa sitzen und lachend mit dem Tablet ein Fast-Gratis-E-Book ausleihen und nicht mal bereit sind, einen 10er für ein E-Book lockerzumachen. Sollen wir uns über diese Leute ärgern und deswegen das Prinzip der öffentlichen Bibliotheken kritisieren? Oder uns lieber darüber freuen, dass es auch Menschen gibt, für die tatsächlich der Bibliotheksausweis einen bezahlbaren Zugang zu Kultur ermöglicht? Von denen einige zu lebenslangen Leser*innen werden?

Die Unterstützer*innen der Initiative betonen, dass es nicht darum geht, diesen Zugang zur Kultur zu behindern, sondern um die „angemessene Bezahlung“, die bei der Onleihe nicht stattfindet. In meinen Augen ist 20 Euro für ein E-Book auch keine angemessene Bezahlung, nur am anderen Ende der Skala. Es wird der Eindruck erweckt, Onleihe sei so etwas wie Napster, wo Medieninhalte frei und unbeschränkt verteil werden können. Nein, und das kann man nicht genug betonen: Das E-Book wird sogar aufgewertet, und es unterliegt dann immer noch den Mengen- und Lizenzbeschränkungen wie vorher. Onleihe ist kein freies Raubkopiersystem, sondern ein geschlossenes System mit klaren Regeln. Soweit ich das sehe, verlangt niemand, dass wirklich alles für ein paar Euro Jahresbetrag uneingeschränkt zur Verfügung steht – nein, E-Books sollen schlicht wie die gedruckten Exemplare behandelt werden: eingekauft, lizenziert, bezahlt. Durch Beschränkungen bei der Leihdauer ist die Reichweite eines Onleihe-Buchs automatisch stark eingeschränkt.

Aktuell warnt die Buchbranche an allen Ecken und Enden vor den Folgen des Papiermangels. Ich habe Aufrufe gesehen, man möge Bücher, die man Weihnachten verschenken will, doch bitte frühzeitig kaufen. E-Books wären eine Chance, dieses Problem zu relativieren und einen neuen Markt zu erschließen – aber nur, wenn man diesen wirklich ernst nimmt. Es reicht nicht, ein Schulterklopfen einzufordern, weil man alle paar Monate das Mauerblümchen gießt. Ich fühle mich derzeit unangenehm an den ersten Elternabend nach den Sommerferien erinnert, als die Elternschaft fragte, wie es denn nun mit Hybridunterricht weitergeht, und die Lehrerschaft sagte: wir freuen uns so sehr, dass das jetzt alles vorbei ist und wir wieder ganz normalen Unterreicht machen können, wir werden jetzt noch irgendwie den Unterricht für die Schüler*innen streamen, die in Quarantäne sind, die müssen das dann halt nachholen.

Das erinnert mich an den Umgang mit E-Books, als wären diese eine unnormale Phase, die vorübergeht. Nicht für mich. Dabei benutze ich die Onleihe nicht mal. Registriert bin ich über einen Ausweis der hiesigen Bibliothek – geliehen habe ich noch keines, weil die Titel, die ich gerade lesen wollte, dort entweder nicht verfügbar waren oder nur auf einer Warteliste standen. SELBSTVERSTÄNDLICH hätte ich, wenn ich hätte leihen können, ein paar Titel weniger gekauft als die ca. 500 E-Books, die ich bisher bezahlt habe, denn ich bin nur ein kleiner freier Autor, meine Prozente sind nicht ganz so hoch und das Stipendium reicht auch nicht ewig. SELBSTVERSTÄNDLICH will ich, dass alle fair bezahlt werden, aber baut doch keine Hürden im Digitalmarkt auf, die unnötig sind, sondern nutzt die Stärken von JEWEILS Print- und Digitalmarkt aus, statt immer wieder in Schockstarre zu verfallen, weil ja der eine dem anderen was wegnehmen könnte. Es wirkt auf mich, als werden E-Books hierzulande bewusst unattraktiv gehalten, bloß damit man dann sagen kann: offensichtlich interessiert sich niemand für E-Books. Die Onleihe zeigt, dass es anders ist, die Nachfrage ist da, aber die Rahmenbedingungen müssen gestaltet werden, statt den Status Quo zu verteidigen. Ich hoffe sehr, dass die Verlags- und die Bibliotheksseite gemeinsam Hürden abbauen, Bücher breiter verfügbar machen und gleichzeitig alle in der Verwertungskette fair bezahlt werden, nur das ist so wahrscheinlich wie eine gemeinsame Regierung von FDP und Grü- wait …

Wenn Leute ein gutes Buch gelesen haben, wollen sie vor allem eins: noch ein gutes Buch. Dann besorgen sie sich Nachschub. Sie erzählen anderen Leuten davon. Andere Leute leihen es vielleicht in der Bibliothek aus, einige kaufen es digital, einige das Hardcover, andere warten bis zum Taschenbuch.

Aber: Die Leute, die all das tun, werden immer weniger.

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