Deutschland liebt Schilder.
Denken wir an den Schilderwald, der uns klarmacht, was wir nicht dürfen. Hier nicht das Gras betreten, dort nicht mit Eis reingehen und überhaupt wenn, dann nur in die eine Richtung. Dort ist Schutt abladen verboten, hier bitte nicht fotografieren. Finger weg! Wir erinnern uns auch die Internet-Schilder, die die Netzverkehr so unglaublich viel sicherer machen sollten.
Aber vielleicht ist “Was, nur?” dann doch die richtige Reaktion. Dieses eine Mal. Denn ich glaube, Google Glass ist die nächste große Revolution. Vielleicht liege ich auch kolossal daneben, und die Angst davor ist größer als die Bereitschaft, sich darauf einzulassen – eine Grundeinstellung bei technischen Neuerungen, die besonders in Deutschland traditionell gepflegt wird.
Stellen wir uns schon jetzt auf ein Wortspiel ein: “Der gläserne Bürger v2”. Derjenige, der Google Glass trägt und dem bösen Monopolisten in die Hände spielt und brühwarm einen Live-Feed seines Lebens ausstrahlt. Das tut er mit Glass natürlich nicht, aber egal, es wird da draußen genug Leute geben, die es genau so auffassen wollen. Das sind diejenigen, die gegen Street View protestieren, weil ja Google draußen eine Kamera aufbaut und ihnen rund um die Uhr ins Badezimmer schaut! Schnell Einspruch einlegen!
Mein Bauchgefühl ist, dass es so kommen wird: Anfangs wird Glass natürlich nur von ein paar Enthusiasten getragen werden, und man wird es mit Neugier und Misstrauen betrachten. Doch es werden mehr werden. Immer mehr. Und irgendwann wird eine kritische Masse erreicht, und der Anblick eines Glass-Trägers an öffentlichen Plätzen wird nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel sein.
Es passieren diese Sachen:
Jemand baut einen Verkehrsunfall, während er ein Glass trägt. Der Boulevard berichtet ausführlich darüber. Das Tragen von Glass während einer Autofahrt wird verboten.
Leute werden hysterisch reagieren, wenn jemand mit einem Glass im Gesicht in ihre Nähe kommt. Sie sind überzeugt, dass sie gerade live gefilmt und ins Internet gestreamt werden und damit ihre Privatsphäre verletzt wird. Alle Hinweise, dass es nicht so ist, werden verhallen. Unbedeutende Politiker werden fordern, dass das “Aufzeichnen”-Licht vorne am Glass vergrößert werden muss.
Im Gespräch mit jemandem, der Glass trägt, wird es immer wieder passieren, dass diese Person plötzlich ins Leere zu blicken scheint, vielleicht ein wenig nach rechts oben. Wir wissen, dass diese person dann schaut, was im Glass angezeigt wird. Und wir fühlen uns unwohl, weil wir nicht die geringste Idee haben, was es ist.
Leute werden herumlaufen und mit sich selbst reden – bzw. mit jemandem via Glass. Alle werden das ganz fürchterlich und als einen Verfall der Sitten finden, denn mit einem Bluetooth-Headset hat man ja NUR geredet und nicht noch Leute angeguckt, die irgendwo anders sind.
Es wird eine lautstarke Gruppe von Menschen geben, die sich Glass kategorisch verweigert. Gut, ein Handy hat diese Gruppe, falls man mal mit dem Auto liegenbleibt, aber Glass kommt ihnen nie und nimmer ins Gesicht!
Der neue Papst wird sich mit einem Glass fotografieren zu lassen, um zu beweisen, wie modern er ist.
In Kinos wird es härtere Kontrollen während der Vorführung geben. Brillen mit dicken Rändern werden vom unkundigen Personal für Glass gehalten und die Träger nicht eingelassen. Die Nerd-Dichte in Kinos lässt deswegen deutlich nach, der letzte “Hobbit”-Teil wird ein kommerzieller Flop.
Und, wie gesagt, es wird ein Glass-Verbotsschild geben. Viele Varianten davon. Weil keiner weiß, wie es aussehen soll.
Dann schlägt auch wieder die Stunde der Kulturpessimisten.
Wir werden so abhängig von der Technologie, werden sie sagen. Wir vergessen, das wahre Leben ums uns herum und sehen es nur noch durch den Google-Filter, werden sie sagen. Früher die Handys, die hatten wir wenigstens nicht den ganzen Tag vorm Gesicht, und die konnten wir auch ausschalten, und das haben wir fast immer getan. Klammheimlich wird sich Glass ausbreiten, und kaum jemand wird den einen zentralen Effekt wahrhaben wollen: dass Technik wieder ein Stück aus unserem Leben verschwindet. Dass das Smartphone meistens in der Tasche bleibt, weil es dann primär ein Relais für Glass ist.
Vielleicht ist das der zentrale Punkt für eine Daten-Armbanduhr wie Pebble: sie ist vertraut, sie ist persönlich, nicht unheimlich, nicht öffentlich. Viele werden – wenn überhaupt neben dem Smartphone – zu so etwas greifen statt Glass. Anfangs. Nicht langfristig, glaube ich. Wer will schon ewig den Arm angewinkelt halten?
Für mich ist die wahre Revolution, die hier zu beginnen scheint: dass Technik durch Glass in unserem Alltag präsenter wird – und gleichzeitig verschwindet. Ein Glass haben wir immer im Blick, aber es versperrt diesen nicht, es ist durchlässig. Es ist Technologie im Augenwinkel, nicht vor der Pupille.
Und genau deswegen, weil die Technik nicht offensichtlich ist, werden alle davor Angst haben.